Sonntag, 10. Juli 2011

Tag 7 - Avignon

Wir waren nun tatsächlich schon sechs Tage unterwegs. Es war heute nun das erste Mal, dass wir an einem Sonntag unterwegs waren. Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartete. Mit ein wenig Pech hätten alle Geschäfte am Sonntag geschlossen. Doch diesbezüglich war uns das Glück ein guter Begleiter. Bereits wenige Kilometer von St. Peray flussabwärts fanden wir irgendwo im Nirgendwo an einem überdimensionalen Kreisel eine kleine aber feine Bäckerei. Hier gab’s das obligate Croissant, das Pain au Chocolat und vor allen Dingen ein Baguette – Proviant für den restlichen Tag. Gleich nebenan gab’s zudem einen kleinen Gemüsemarkt, wo wir Wasser kaufen konnten.

Bei Cruas
Zu dritt unterwegs im Gefahrengebiet
Gut gerüstet machten wir uns also weiter flussabwärts. Heutiges Tagesziel war Avignon. Wir gelangten über Beauchastel, La Voulte-sur-Rhône nach Cruas. Hier bot sich uns ein eindrückliches Bild. Wenige Wochen nach den verheerenden Katastrophen in Japan, bei denen die Kraftwerke in Fukushima stark beschädigt wurden und ein atomares Desaster eintrat, fahren wir an einem AKW mit vier Reaktoren vorbei. Auf den ersten Blick ergab sich ein Bild für die Galerie: blauer Himmel, Sonnenschein, graue Blöcke, aus denen schneeweisser Dampf aufsteigt und zwei Fahrradfahrer, die sich an den Anlagen vorbeitrampeln. Doch ganz so idyllisch war es nicht. Es entstand schnell ein mulmiges Gefühl im Bauch, wenn man die Türme betrachtete, die doch wenig gepflegte Umgebung, und gleichzeitig an die Bilder aus Japan dachte. Wir hofften (und hoffen) das Beste und fuhren unseres Weges. Doch wenn ich vorhin von zwei Fahrern sprach, so habe ich eigentlich gelogen: Denn es waren drei. Kurz nach den Kraftwerken haben wir in einem kurzen Aufstieg zu einem älteren Herrn aufgeschlossen. In der Ebene vermochte er unser Tempo zu halten und so fuhren wir Rad an Rad weiter. Erst einige Kilometer später kamen wir ins Gespräch. Er war gerade auf seiner üblichen Sonntagmorgenrunde. Er wohnte hinter einem der vielen Hügel und machte jeweils eine Tour dem Fluss entlang und dann wieder hinter der Hügelkette zurück. Es war eine willkommene Abwechslung, dass wir zu dritt waren. So konnten wir trotz des einsetzenden Gegenwinds im Windschatten ziemlich Tempo fahren, ohne gross Kräfte zu verschwenden. Der Herr machte uns auch auf eine Alternativroute aufmerksam, der wir aber nicht folgten. Wir fragten ihn aber nach dem richtigen Abzweiger und verliessen zwei Ortschaften weiter den gemeinsamen Weg. „Bonne route!“

Kurz vor der Siesta
Bei Saint-Montan
Unser Weg führte uns nach Viviers und dann leicht abseits des Flusses durch eine Talsohle nach Bourg-Saint-Andéol. Hier war es Zeit für die Mittagspause. Mal wieder waren wir zur Mittagszeit in irgendeinem Kaff gelandet. Zwar fanden wir schnell die Burg und auch den Hauptplatz mit Brunnen, Bänken und schattenspendenden Bäumen. Doch von einem Supermarkt oder ähnlichem war weit und breit keine Spur. Also machte ich mich auf die Suche. Kreuz und quer durch das Städtchen. Vorbei an einem Briefmarkensammelladen und einer Halal-Metzgerei mit äusserst komischen Gestalten vor den Eingängen fand ich schliesslich einen kleinen Supermarkt. Der Ladenbesitzer war gerade daran, alle Fruchtstände für die Mittagspause in den Laden zurückzuschieben. Als ich fragte, ob ich noch kurz kommen könnte, wies er mich unfreundlich ab. Erst als ich nachhakte und sagte, dass es nur ganz schnell ginge, stimmte er zu. Also husch, rein ins Haus. Ich dachte gerade noch daran, dass ich alles doppelt kaufen müsste, da mein Bruder sonst vor dem geschlossenen Laden steht. Also zwei Wasser, zwei Cola, zwei Sandwiches, zwei Salate, zwei Riegel. Zum Glück war die Frau, die mich an der Kasse bediente freundlicher. Merci et au revoir!

Mittag in B.-S.-Andéol
Petrus mag uns nicht
Nach köstlichem Snack und ausgiebigem Nickerchen ging es dann weiter. Doch es ging nicht einfacher als am Morgen. Im Gegenteil, der Gegenwind hat zugenommen. Uns kam der Gedanke, ob uns Petrus aus der Pizzeria vom Vorabend vielleicht mit „schlechtem“ Wetter bestrafen wollte, weil mein Begleiter seine Pizza nicht ganz aufgegessen hat. Doch das trauten wir dem Herrn Petrus aus Saint Peray dann doch nicht zu. Zusammen mit der trockenen Luft und den unglaublichen Temperaturen machte es der Wind wirklich schwierig, nicht daran zu denken, warum man sich so was antut. Doch der Gedanke verflog schnell wieder. Irgendwie beginnt man, den Gedanken je länger je weniger zu erlauben. Auf früheren Reisen hätte ich bei solchen Bedingungen kapituliert, hätte gestoppt und wäre zur Abkühlung in den nächsten Pool gesprungen. Doch nicht so dieses Mal. Ich denke, es war der blosse Ehrgeiz, der manchmal dafür sorgte, dass wir weiterfuhren. Nachdem ich in Neuenburg bereits alle Motivation zusammennahm um weiterzufahren, waren die Hitze und der Wind viel eher ein laues Lüftchen, welches meiner Motivation zu schaffen machte. Wie sagte Herr Kahn so schön: „Weiter, weiter, immer weiter!“

Petrus mag uns immer noch nicht
In Sauveterre
Über Bagnols-sur-Cèze näherten wir uns immer weiter flussabwärts fahrend unserem heutigen Ziel Avignon. Doch jeder Kilometer kostete viel Kraft, Leistungskilometer und gefahrene Kilometer waren auf der imaginären Grafik weit auseinander. Jede noch so kleine Windschatten spendende Hügelflanke, Mauer oder Allee waren äusserst willkommen. Wir kämpften uns so von Ort zu Ort: Saint-Génies-de-Comolas, Roquemaure, Sauveterre. Hier konnten wir nicht mehr. Kraft und Motivation war aufgebraucht. Wir setzten uns in einem Pausenhof einer Schule auf eine Bank, tranken unser letztes Wasser, assen unser letztes Brot, unseren letzten Riegel. Es waren nur noch einige Kilometer bis Avignon, doch es schien noch unendlich weit entfernt. Doch alles Jammern half nichts. Aufsitzen, weiterfahren!

Mars macht mobil
Mühsam und mit letzten Kräften kämpften wir uns der Rhone entlang nach Villeneuve-lès-Avignon. Sogar bis hier her gab es noch eine Pause: In einem kleinen Tante-Emma-Laden gab es Wasser, Cola und ein Mars-Eis-Riegel. Herrlich! So hatten wir die Kraft uns bis zu eben jenem Villeneuve und auch noch über die letzten beiden Brücken nach Avignon zu kämpfen. Hier sei erwähnt, dass bereits der Blick von der in die Stadt führenden Brücke wunderschön ist.

Vor Avignon
Schon wieder?
Nun, geschafft. Blieb nur noch ein Hotel zu suchen, was in einer solch touristischen Stadt kein Problem sein sollte. Wenn da bloss nicht das Theaterfestival gewesen wäre. Schon wieder ein Festival, bereits das zweite nach Neuenburg. Während dreier Wochen im Juli trifft sich anscheinend die ganze Welt der schrägen Vögel und lustigen Gestalten in Avignon. Die Strassen waren voll von Leuten und Musikern. Überall hingen Werbungen auf Pappkarton. Teilweise waren ganze Häuserfassaden damit zugekleistert. Wir liefen kreuz und quer durch die Gassen, fanden aber ausser Absteigen und Luxushotels kaum Unterkünfte. Als wir am Hauptplatz standen, sagten wir uns, wir fragen zumindest mal in einem der etwas teurer scheinenden Hotels. Der Mann an der Reception des Kyriad Hotels hatte prompt noch ein Zimmer frei. Der Preis war zwar recht hoch, doch das seien eben die Festivalpreise meinte er. Die seien in der ganzen Stadt höher als sonst. Und die anderen Hotels wären ziemlich ausgebucht. Ob das stimmte oder nicht sei dahingestellt. Uns war es jedenfalls egal. Wir wollten nicht weitersuchen. Und wir wollten schon gar nicht weiterfahren. Zu gerne wollten wir aber diesen Abend in dieser Stadt mit diesen Leuten verbringen. Also: Einchecken.

Avignon by Freaks & by Night
Werbewand in Avignon
Nachdem wir unsere Räder im Notausgang abgestellt und uns geduscht hatten, ging’s auf Erkundungstour. Vorbei an Boutiquen und Supermärkten an der Hauptstrasse, Glaceständen und Souvenirshops. Überall auf den Strassen waren Menschenmassen. Immer wieder versuchten ein Strassenkünstler oder eine Tanzgruppe ihr Glück. Nach dem Abendessen in einem italienischen Restaurant, bei dem uns unser Tischnachbar dank seiner scheinbar natürlichen Kompliziertheit und seinem Übersetzer-App auf dem Smartphone köstlich unterhielt, machten wir noch die Tour durch die Stadt. Die Burgen und Statuen bei Abendlicht, im Scheinwerfer oder im Dunkeln, ein Foto von der Menge auf dem Platz vor der Papstpalast und zum Abschluss ein Gang zur Pont d’Avignon.
Wir haben alles geschafft, wir waren alle geschafft!

Anbei noch ein interessanter Link, auf dem alle Atomkraftwerke in Europa ersichtlich sind. Dazu gibt’s weitere Informationen (Seite eines Drittanbieters)



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