Mittwoch, 6. Juli 2011

Tag 3 - Genf

Der Optimismus des Vorabends war schnell verschwunden. Geweckt vom Scheppern der Stühle, die auf der Piazza wieder aufgestellt wurden, und den Putzmaschinen, welche die Spuren des letzten Abends verwischten, hiess es, keine Zeit zu verlieren: Richten und Packen.

Com’on!
Doch oje, meine Blessuren wurden kaum besser. Zwar war die Salbe die erhoffte Hilfe, doch das Pflaster war seinen Preis nicht wert, hielt es doch kaum auf der Haut. Allerdings hatte ich keine Wahl. So verband ich alles, so gut es eben ging, während sich mein Bruder vom inbegriffenen Frühstück des Hotels überzeugen liess. Darauf musste ich leider verzichten, Wundversorgung geht vor. Mir schwirrte sowieso andauernd nur durch den Kopf, wie ich das nur machen soll. „Na gut, heute fährst du bis Genf. Morgen dann bis Pont-d’Ain. Und am Freitag bist du schon in Lyon. Dort kannst du das Velo dann getrost stehen lassen. Dann hast du wenigstens etwas erreicht. Ein paar gemütliche Tage in Lyon und dann wieder nach Hause.“ In keinem Moment hätte ich an jenem Morgen daran gedacht, dass ich es bis nach Saragossa schaffen könnte. Selbst das Mittelmeer schien unerreichbar, als ich auf der Bettkante sitzend der Verzweiflung immer näher kam. Doch bis Lyon wollte ich auf jeden Fall, also hielt ich mich ganz an Oli Kahn, dessen „Weiter, weiter, immer weiter!“ mich von der Bettkante auf den Fahrradsattel brachte. Auf geht’s!

Dem See entlang
Auf der Hauptstrasse ging’s dem See entlang über Colombier und Boudry immer Richtung Südwesten. Nach einer kurzen Supermarkt-Pause, die für mich gleichzeitig das Frühstück beinhaltete, ging es zügig weiter. Die Strassen waren dank der parallel verlaufenden Autobahn ziemlich leer, aber dennoch in einem hervorragenden Zustand. So waren wir recht schnell einige Kilometer weiter und erreichten bald Yverdon.

Städtebummel
Altstadt von Yverdon
Mein Bruder war schon lange nicht mehr und ich noch nie so richtig hier. Wir stiegen daher von unseren Rädern und schlenderten durch die Fussgängerzone. Die schmalen, sauberen Gässlein wussten zu gefallen. Doch zu lange wollten und durften wir uns nicht hier sonnen, hatten wir doch noch einen weiten Weg vor uns. Nach einem weiteren Supermarkt-Besuch, bei dem mein Bruder sich noch den vergessen gegangenen Adapter zum Aufladen seines Musikplayers besorgte und Linsen holen wollte beim Optiker, von wo er aber mit einem Markenmuster und einem breiten Grinsen über die misslungene Unterhaltung wieder zurückkam.

Fahrt ins Unbekannte
Entlang der Thielle
Frisch gestärkt, gut versorgt und mit vollen Wasserflaschen ging’s also weiter. Wir fuhren ins Ungewisse. Von einer Tour mit der Familie hatte ich noch einige starke Steigungen in Erinnerung. Doch diese Tour war Jahre her und die Erinnerung sollte sich später zum Glück als falsch herausstellen. Aber das Ganze von vorne: Wir verliessen Yverdon und steuerten dem Thielle-Damm entlang gen Chavornay. Leider war die Beschilderung nicht ganz eindeutig, so dass wir eine Zusatzrunde um den Kleinflughafen gedreht haben und vor einem in einen Wiesenweg übergehenden Strassenende Kehrt machten. Beim zweiten Anlauf klappte es dann und wir fuhren durch riesige Felder kreuz und quer bis nach Chavornay. Ich freue mich, diesen Ort hier zu erwähnen, da sich die beschauliche Häuseransammlung wohl kaum in einem anderen Bericht findet. Bei uns verfing sie sich in den Erinnerungen, da wir uns ernsthaft überlegten, wie man hier wohnen konnte oder wollte – irgendwo im Nirgendwo. Doch für uns ging es gleich weiter. Der Bahnlinie entlang fuhren wir nach Bavois. Hier erwartete uns eine kleine Überraschung. Die Strasse führte unbefestigt weiter. Nach wenigen Metern mussten wir einsehen, dass Fahren nicht möglich war. Wir stiegen also ab und marschierten los.
La Sarraz
Gut zwei Kilometer weiter – in La Bernoise – ging’s dann fahrend weiter. So erreichten wir bald La Sarraz, wo wir uns trotz rechter Grösse dieselbe Frage stellten wie in Chavornay. Hier fanden wir auch eine Antwort: Es war dies der ideale Ort für Flüchtige und im Exil Lebende um irgendwo unterzutauchen und ein ruhiges Leben zu führen, ohne Gefahr zu laufen aufzufliegen.

Immer weiter!
Durch eine zwar hügelige, aber doch flachere Landschaft als in meinen Erinnerungen ging es über Cossonay weiter nach Morges. Von hier waren es nur noch einige flache Kilometer dem See entlang bis zum heutigen Etappenziel Genf – dachte ich. Doch der Wind wurde stärker, die Sonne heisser, die Luft dicker, die Kilometer länger. Bereits in Nyon war eine Pause überfällig. Wir setzten uns auf die Hafenmauer direkt am See, genossen die Aussicht auf See, Land und Leute. Wir ruhten uns aus und versuchten noch einmal, unsere Kräfte zu sammeln. So ging es weiter. Bald schon dachten wir, gleich hätten wir es. Doch die Agglomerationen vermittelten uns falsche Tatsachen. In Pregny war ich total platt, wäre am liebsten abgestiegen und hätte mich auf dem Radstreifen, der übrigens den gesamten Weg seit Morges direkt an der Hauptstrasse entlang führte, schlafen gelegt. Doch wie war das am Morgen? „Weiter, weiter, immer weiter!“

Willkommen?
Pause in Nyon
So erreichten wir irgendwann Genf. Dank eines früheren Besuchs hier konnten wir die Jugendherberge direkt ansteuern. Aber auch hier war uns das Glück nicht hold – ausgebucht. Wieder einmal ging es also auf Hotelsuche. „Kein Problem in einer Stadt wie Genf!“ – falsch gedacht! Um den Bahnhof herum, am Fluss, am See und auch in der Altstadt waren alle Hotels ausgebucht. Einmal mehr hätte man meinen können, man will uns hier nicht. Man sagte uns, es fänden gerade diverse Konferenzen, Tagungen und Messen statt. Ein Zimmer hätten wir noch kriegen können. Doch angesichts des beinahe baufälligen Erscheinungsbildes des Hauses war ich nicht bereit, hundertsechzig Franken dafür auszugeben. Wir überlegten noch kurz, einen Bekannten von uns anzurufen, den wir vor drei Jahren auf einer unserer Touren in Basel besuchten und der jetzt unseres Wissens in Genf wohnte, liessen es dann aber bleiben. Uns blieb also nichts anderes übrig, als noch einmal aufzusitzen und weiterzufahren.

Der Nase nach
Auf einer Kreuzung stehend und den Weg nach Chancy und Onex suchend half uns zum Glück eine Dame weiter, die mit ihrem Fahrrad gerade an uns vorbeifahren wollte. Sie zeigte uns den Weg, warnte uns aber, in Chancy und Onex gäbe es keine Hotels. Das seien Wohngegenden. Sie würde da nicht hinfahren. Wir liessen es dabei, vertrauten aber unserem Sinn für Duschen und Betten. Prompt fanden wir einige Kurven und Kreuzungen weiter in Lancy ein Ibis Hotel, in welchem man uns gerade noch das letzte Zimmer anbieten konnte – gekauft!
Nach der Dusche ging es spätabends noch auf die Suche nach einem schönen Restaurant. Tatsächlich fand sich gleich in der Nähe eine Pizzeria. Von der Familienfeier, die gerade stattzufinden schien, liessen wir uns nicht abhalten. Auch nicht davon, dass es zu dieser Uhrzeit nur noch Pizza gab – wieder nichts mit einem feinen Teller Pasta. All dies war uns ziemlich egal, solange wir uns danach nur wohl verdient und gesättigt in unser Bett fallen lassen konnten.




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