Oh ja, heute sollte es so weit sein. Die Königsetappe stand an. Über zwei Pässe und quer durch die Pyrenäen wollten wir nach Andorra gelangen. Als wir am Morgen aufwachten, sahen wir draussen den gewohnt blauen Himmel. Doch nicht alles war gleich. Da wir in der Höhe waren, war es ziemlich kühl – dachten wir erst jedenfalls.
Nach Mont-Louis |
Kalter Sommermorgen
Wir zogen also unsere warmen Kleider an, zumindest was wir noch dabei hatten, und machten uns auf den Weg. Die Velos hatten wir hinter dem Haus in einer Nische abgestellt. Für eine improvisierte Lösung war sie sehr gut. Also, aufschliessen, aufsitzen. Bereits auf den ersten Metern mussten wir feststellen, dass es nicht kühl war. Es war saukalt. Wir wunderten uns, wie die junge Frau an der Bushaltestelle mit kurzen Hosen dastehen konnte. Doch trotz der Kälte fuhren wir bestens gelaunt los. Schliesslich soll unser Ziel heute Andorra la Vella sein. Keiner von uns wusste, was ihn dort erwartet, doch wir waren beide enorm gespannt, es rauszufinden. Wir pedalten die Kurven entlang. Es war ziemlich flach. Wir erwarteten eine ebene Strecke bis Bourg-Madame. Danach sollte es dann bergauf gehen. Doch dem war nicht so. Bald durften wir feststellen, dass es bis Bourg-Madame, dem Grenzdorf bei Puigcerda, viel abwärts geht. Zum einen war das prima, da wir so zügig vorankamen. Andererseits bedeutete es aber auch, dass wir danach zusätzliche Meter machen mussten, da die eine Passhöhe über 2000 Meter über Meer liegt. Und überdies wurde es durch den Fahrtwind auch zusätzlich kälter. Ich packte mich, so gut es ging, ein. Windstopper, Brille, Velo-Handschuhe und das Halstuch als Stirnbandersatz. Jetzt war es nur noch an den Fingern kalt…
Freie Fahrt?
Bei Carol |
So ging es zügig nach Saillagouse und vorbei an Hix. Hix ist eines jener Orte, über deren Namen wir uns – wohl zu recht – lustig gemacht haben. Zudem hatte mein Bruder da gerade wieder Schluckauf. Der quälte ihn seit Canet. Wir hofften ihn in Hix loszuwerden, doch daraus wurde vorerst nichts. Weiter ging's nach Bourg-Madame, wo wir unseren Frühstückshalt einlegten. Es wurde ein längerer Halt. Wir schrieben noch einige Karten. Mein Bruder musste noch die Pedalkörbe neu anschrauben. Und ich ging zudem zur Tourismus-Info. Wir wollten abklären, ob wir die (einzige) Strasse, die von hier nach Andorra führt, auch benutzen durften. Zum Glück bestätigte mir dies die Dame im Büro. Sonst wäre aus Ziel Andorra nichts geworden und wir hätten direkt nach La Seu d'Urgell fahren müssen. So aber konnte es weiter gehen.
Blick zurück über Puymorens |
Ein alter Bekannter
Entlang der französisch-spanischen Grenze fuhren wir tiefer in die Berge hinein. Bald nach dem Ortsausgang begann die Strasse leicht anzusteigen. Nach der Leistung von gestern hielt sich das im Rahmen. Wir gelangten vorbei an Ur – ein weiteres jener spässe-provozierenden Orte – nach Enveitg, "Hampis" Latour-de-Cárol, Riutés, Carol und nach Porta. Da wir nun schon eine geraume Zeit in die Berge fuhren, und uns wunderten aufgrund der sich vor uns erhebenden Bergwände noch nicht gegen eine solche gefahren zu sein, dachten wir, dies wäre wohl das letzte Dorf in Frankreich. Zeit also, unsere Karten mit den französischen Briefmarken einzuwerfen. Nachdem ich mich in einer Bar erkundigt habe, fanden wir sogar den entsprechenden Briefkasten.
Riegelpause auf 1915 Metern
So ging es dann weiter. Weiter bergauf, weiter bergwärts. Kurz vor der Ortschaft Porté-Puymorens gabelte die Strasse in zwei Abzweiger. Der eine Weg führte in einen Tunnel. Der andere führte durch das Dorf und über den Pass an dasselbe Ort. Da wir uns aber ziemlich sicher waren, dass wir im Tunnel nichts zu suchen haben, blieb uns nur der eine Weg. Ab sofort ging's ein wenig steiler bergauf. Durch das Ort hindurch in den Ausläufer eines Nebentals. Eine scharfe Wende und wieder zurück. Die Landschaft, die sich uns bot, war ein weiteres Mal eindrücklich. Wir wähnten uns fernab jeglicher Zivilisation. Pferde grasten in den Hängen, Hütten standen direkt am Fluss. Nur die Autos, Motorräder und Wohnmobile, die uns immer wieder verkamen, zeigten uns die Realität. Den Pass hinauf ging es gemächlich, wenngleich auch nicht sehr anstrengend. Die Passstrassen hier in den Pyrenäen weisen bedeutend weniger Steigung auf als andernorts. Das macht das Fahren angenehmer. So erreichten wir bald die auf 1915 Metern gelegene Passhöhe des Col du Puymorens. Wir verschnauften, zogen die Jacke über und genossen eine unserer Riegel-Pausen, wobei es zuletzt öfters eine Riegel-Baguette-Pause war.
Pas de la Casa |
Ab und auf
Kaum fuhren wir talwärts, sahen wir einen Anhalter. Er stieg gerade in ein Auto ein und durfte mitfahren. Nichts besonders. Also liessen wir die Bremsen los und die Räder begannen von selber zu drehen, und das in einem atemberaubenden Tempo. Wenig später aber stoppte das besagte Auto vor uns wieder. Der Anhalter stieg schon wieder aus. Es waren wohl kaum zwei Kilometer. Tja, komische Leute gibt's. Für uns geht's weiter. Einfach rollen lassen. Nach einer Wahnsinns-Abfahrt ging die Strasse wieder auseinander. Der eine Weg führte weiter ins Tal, zur Pforte des Tunnels und weiter ins Flachland – sofern man das so nennen kann – nach Toulouse. Wir nahmen die andere Strasse, aufwärts, immer Richtung Andorra la Vella. Diese Strecke war einiges verkehrsreicher. Es war die einzige Verbindung von Norden nach Andorra. Wenige Kurven später kamen wir zum Zoll. Wir waren uns beide einig, dass die Herren Zöllner wohl einen der gemütlichsten Jobs haben. Kein einziger Fahrzeuglenker hielt an oder wurde angehalten. Noch einige Kurven weiter erreichten wir Pas de la Casa. Mein Bruder war vor mir dort, ich hatte im Anstieg den Anschluss verloren. Die Abzweigung zum Tunnel, das uns den Pass hätte ersparen können, beachteten wir schon gar nicht mehr. Zu gut war das Gefühl, wenn man spürt, wie das Rad über die Kuppe eines Passes fährt. Meine Beine waren in der Zwischenzeit zwar extrem schwer geworden und nahe am Übersäuern. So kam mir die Pause in Pas de la Casa gerade recht.
Shopping-Tourismus
Wir setzten uns im Zentrum in eine Art Tribüne, die um eine kleine Kirche errichtet war. Das rege Treiben der vielen Touristen liess uns erstaunen. Duty-Free Shops, wohin das Auge reicht. Im Geschäft nebenan konnten wir nicht nur günstige Getränke kaufen, sondern auch Franzosen und Spanier beobachten, die im grossen Stil einkauften: 5 Liter-Flaschen Whisky, Grosspackungen Zigaretten, Parfüme, kiloweise Süsswaren und Schokolade – ein tolles Bild. Und als wir so draussen sassen und unsere Cola genossen, wurden unsere Reize durch die vielen Werbungen erregt, die all-you-can-eat-Buffets für weniger als neun Euro versprachen. Doch wir wussten, dass noch ein Pass auf uns wartet und dass wir uns das noch nicht verdient gehabt hätten. Oder besser gesagt, dass es uns im Anschluss noch plagen würde.
Im Anstieg des Pas d'Envalira |
Komm schon Schwerkraft, du warst mal cool!
Es ging also weiter bergauf. Noch zwei Kurven in den Häusern, vorbei an einer riesigen Tankstelle mit massig Kundschaft und separatem Platzanweiser, der uns gar anfeuerte. Und schon waren wir wieder draussen aus dem Getümmel. Nur einzelne Autos überholten uns. Einige Lastwagen. Und einige Pferde passierten unseren Weg. Wir strampelten uns den Pass empor – den Pas d’Envalira. Alles kein Problem. Die Beine dankten die Pause mit neuen Kräften. Der Kopf ignorierte die Sessellifte, die auf den selben Berg führten, und wusste, dass hinter der Passhöhe eine rasante, lange Abfahrt wartet. Nur als uns ein Fahrer, der in der Tour de France wohl noch als Bergfloh durchgehen würde, überholte und es als leichte Übung aussehen liess, waren wir ein wenig gekränkt. Ich zumindest. Bei meinem Bruder konnte ich nur davon ausgehen. Sehen konnte ich ihn nicht, er war mir bereits wieder entwischt.
Das Dach der Tour
Kurz vor der Passhöhe kam uns unser Bergfloh wieder entgegen. Er hatte wohl nur seine Nachmittagstour gemacht und schaute kurz auf der Anhöhe nach, ob das Schild mit der Passhöhe noch dasteht. Ich war aber doch froh, als ich jenes Schild sah. Zusammen mit zwei Restaurants und – tatsächlich – zwei Tankstellen. Man stelle sich vor, die Leute karren tonnenweise Benzin auf über 2000 Meter über Meer, nur damit es die Franzosen und andere wieder hinunterfahren können. Hauptsache günstig. Wir aber machten Pause. Das Dach unserer Tour war erreicht. Auf 2407 Meter über Meer genossen wir jeden Augenblick. Warme, trockene Klamotten anziehen und dann gönnten wir uns im Restaurant eine Cola und eine Portion Pommes. Fettig, salzig und nicht knusprig – aber herrlich!!! Und auch extrem günstig. Bei uns bezahlt man in jedem Restaurant mehr, als hier in der Berghütte. Wir begannen langsam zu begreifen, dass wir in einem wohl ziemlich kostengünstigen Land gelandet sind.
Nach Speis und Trank mussten wir natürlich noch einige Schnappschüsse einfangen. Doch danach wollten wir uns an die Abfahrt machen. Vorerst standen uns aber Dutzende Pferde im Weg. Mitten auf der Strasse standen sie und schauten herum. Für die Autos und Lastwagen gab’s kein Durchkommen. Viele Passanten stoppten, stiegen aus, streichelten die Tiere oder fotografierten sie. Wir bahnten uns bald einen Weg durch die Pferde und konnten danach eine der besten Abfahrten geniessen, die ich je fahren durfte. Unzählige Serpentinen den ganzen Pass hinunter und weiter durch Andorra – immer in Richtung la Vella.
In Incles |
Durch Soldeu und el Tarter gelangten wir nach Canillo. Ohne treten zu müssen notabene. Im Gegenteil, wir mussten bremsen, um nicht zu schnell zu werden. In Canillo machten wir kurz Rast, um in den gross umworbenen Outlets zu schnuppern. Und hätten wir gewusst, dass es in la Vella selbst keine solche Outlets mehr hat, hätten wir uns die grossen Rabatte wohl kaum entgehen lassen. So aber kurvten wir weiter. Bis nach el Tremat. Hier wurden wir zu einer Pause gezwungen, als sich mein Bruder bei der Fahrt durch eine Baustelle einen weiteren Platten einhandelte. Schlauch wechseln, flicken, pumpen, weiter… Schon wenig später erreichten wir Andorra la Vella. Auf gut Glück steuerten wir in Richtung Zentrum. Und wir hatten gut Glück und wurden bald fündig.
Abfahrt durch El Tarter |
Plan B
Auch wenn es uns in diesem „Günstigland“ gereizt hätte, in einem Luxushotel nach den Preisen zu fragen, steuerten wir ein anderes Hotel an. Klein, aber fein. Und so war auch der Preis. Zudem war das Hotel zentral gelegen. Nur mit den Velos gab’s ein Problem. Das Hotel hatte keine Garage und keinen freien Raum, wo wir sie hätten abstellen können. Erst wollten wir sie vor dem Hotel an einen Baum ketten. Der Metzger von nebenan, den wir um Erlaubnis fragten, riet uns aber vehement davon ab und wies uns darauf hin, dass die Räder dann morgen wahrscheinlich nicht mehr da stehen werden. Also, Plan B. Wir holten unsere TransBags, die wir mithatten, um die Räder im Nachtzug transportieren zu können. Räder auseinandernehmen, einpacken und ab in unser Zimmer damit.
Sightseeing
Nach einer Dusche aber noch vor dem Abendessen ging’s zum Shopping. Wir haben uns zwar beide nichts gekauft, haben dabei aber die ganze Stadt gesehen. So konnten wir am Ende in einer Pizzeria zum verdienten Abendessen Platz nehmen. Erst nach dem Essen merkten wir, dass wir in einem Hof gleich neben unserem Hotel sassen. Wir mussten nur noch in unser Zimmer stolpern.
Erster Blick auf Andorra la Vella |