Freitag, 15. Juli 2011

Tag 12 - Andorra la Vella

Oh ja, heute sollte es so weit sein. Die Königsetappe stand an. Über zwei Pässe und quer durch die Pyrenäen wollten wir nach Andorra gelangen. Als wir am Morgen aufwachten, sahen wir draussen den gewohnt blauen Himmel. Doch nicht alles war gleich. Da wir in der Höhe waren, war es ziemlich kühl – dachten wir erst jedenfalls.

Nach Mont-Louis
Kalter Sommermorgen
Wir zogen also unsere warmen Kleider an, zumindest was wir noch dabei hatten, und machten uns auf den Weg. Die Velos hatten wir hinter dem Haus in einer Nische abgestellt. Für eine improvisierte Lösung war sie sehr gut. Also, aufschliessen, aufsitzen. Bereits auf den ersten Metern mussten wir feststellen, dass es nicht kühl war. Es war saukalt. Wir wunderten uns, wie die junge Frau an der Bushaltestelle mit kurzen Hosen dastehen konnte. Doch trotz der Kälte fuhren wir bestens gelaunt los. Schliesslich soll unser Ziel heute Andorra la Vella sein. Keiner von uns wusste, was ihn dort erwartet, doch wir waren beide enorm gespannt, es rauszufinden. Wir pedalten die Kurven entlang. Es war ziemlich flach. Wir erwarteten eine ebene Strecke bis Bourg-Madame. Danach sollte es dann bergauf gehen. Doch dem war nicht so. Bald durften wir feststellen, dass es bis Bourg-Madame, dem Grenzdorf bei Puigcerda, viel abwärts geht. Zum einen war das prima, da wir so zügig vorankamen. Andererseits bedeutete es aber auch, dass wir danach zusätzliche Meter machen mussten, da die eine Passhöhe über 2000 Meter über Meer liegt. Und überdies wurde es durch den Fahrtwind auch zusätzlich kälter. Ich packte mich, so gut es ging, ein. Windstopper, Brille, Velo-Handschuhe und das Halstuch als Stirnbandersatz. Jetzt war es nur noch an den Fingern kalt…

Freie Fahrt?
Bei Carol
So ging es zügig nach Saillagouse und vorbei an Hix. Hix ist eines jener Orte, über deren Namen wir uns – wohl zu recht – lustig gemacht haben. Zudem hatte mein Bruder da gerade wieder Schluckauf. Der quälte ihn seit Canet. Wir hofften ihn in Hix loszuwerden, doch daraus wurde vorerst nichts. Weiter ging's nach Bourg-Madame, wo wir unseren Frühstückshalt einlegten. Es wurde ein längerer Halt. Wir schrieben noch einige Karten. Mein Bruder musste noch die Pedalkörbe neu anschrauben. Und ich ging zudem zur Tourismus-Info. Wir wollten abklären, ob wir die (einzige) Strasse, die von hier nach Andorra führt, auch benutzen durften. Zum Glück bestätigte mir dies die Dame im Büro. Sonst wäre aus Ziel Andorra nichts geworden und wir hätten direkt nach La Seu d'Urgell fahren müssen. So aber konnte es weiter gehen.

Blick zurück über Puymorens
Ein alter Bekannter
Entlang der französisch-spanischen Grenze fuhren wir tiefer in die Berge hinein. Bald nach dem Ortsausgang begann die Strasse leicht anzusteigen. Nach der Leistung von gestern hielt sich das im Rahmen. Wir gelangten vorbei an Ur – ein weiteres jener spässe-provozierenden Orte – nach Enveitg, "Hampis" Latour-de-Cárol, Riutés, Carol und nach Porta. Da wir nun schon eine geraume Zeit in die Berge fuhren, und uns wunderten aufgrund der sich vor uns erhebenden Bergwände noch nicht gegen eine solche gefahren zu sein, dachten wir, dies wäre wohl das letzte Dorf in Frankreich. Zeit also, unsere Karten mit den französischen Briefmarken einzuwerfen. Nachdem ich mich in einer Bar erkundigt habe, fanden wir sogar den entsprechenden Briefkasten.

Riegelpause auf 1915 Metern
So ging es dann weiter. Weiter bergauf, weiter bergwärts. Kurz vor der Ortschaft Porté-Puymorens gabelte die Strasse in zwei Abzweiger. Der eine Weg führte in einen Tunnel. Der andere führte durch das Dorf und über den Pass an dasselbe Ort. Da wir uns aber ziemlich sicher waren, dass wir im Tunnel nichts zu suchen haben, blieb uns nur der eine Weg. Ab sofort ging's ein wenig steiler bergauf. Durch das Ort hindurch in den Ausläufer eines Nebentals. Eine scharfe Wende und wieder zurück. Die Landschaft, die sich uns bot, war ein weiteres Mal eindrücklich. Wir wähnten uns fernab jeglicher Zivilisation. Pferde grasten in den Hängen, Hütten standen direkt am Fluss. Nur die Autos, Motorräder und Wohnmobile, die uns immer wieder verkamen, zeigten uns die Realität. Den Pass hinauf ging es gemächlich, wenngleich auch nicht sehr anstrengend. Die Passstrassen hier in den Pyrenäen weisen bedeutend weniger Steigung auf als andernorts. Das macht das Fahren angenehmer. So erreichten wir bald die auf 1915 Metern gelegene Passhöhe des Col du Puymorens. Wir verschnauften, zogen die Jacke über und genossen eine unserer Riegel-Pausen, wobei es zuletzt öfters eine Riegel-Baguette-Pause war.

Pas de la Casa
Ab und auf
Kaum fuhren wir talwärts, sahen wir einen Anhalter. Er stieg gerade in ein Auto ein und durfte mitfahren. Nichts besonders. Also liessen wir die Bremsen los und die Räder begannen von selber zu drehen, und das in einem atemberaubenden Tempo. Wenig später aber stoppte das besagte Auto vor uns wieder. Der Anhalter stieg schon wieder aus. Es waren wohl kaum zwei Kilometer. Tja, komische Leute gibt's. Für uns geht's weiter. Einfach rollen lassen. Nach einer Wahnsinns-Abfahrt ging die Strasse wieder auseinander. Der eine Weg führte weiter ins Tal, zur Pforte des Tunnels und weiter ins Flachland – sofern man das so nennen kann – nach Toulouse. Wir nahmen die andere Strasse, aufwärts, immer Richtung Andorra la Vella. Diese Strecke war einiges verkehrsreicher. Es war die einzige Verbindung von Norden nach Andorra. Wenige Kurven später kamen wir zum Zoll. Wir waren uns beide einig, dass die Herren Zöllner wohl einen der gemütlichsten Jobs haben. Kein einziger Fahrzeuglenker hielt an oder wurde angehalten. Noch einige Kurven weiter erreichten wir Pas de la Casa. Mein Bruder war vor mir dort, ich hatte im Anstieg den Anschluss verloren. Die Abzweigung zum Tunnel, das uns den Pass hätte ersparen können, beachteten wir schon gar nicht mehr. Zu gut war das Gefühl, wenn man spürt, wie das Rad über die Kuppe eines Passes fährt. Meine Beine waren in der Zwischenzeit zwar extrem schwer geworden und nahe am Übersäuern. So kam mir die Pause in Pas de la Casa gerade recht.

Shopping-Tourismus
Wir setzten uns im Zentrum in eine Art Tribüne, die um eine kleine Kirche errichtet war. Das rege Treiben der vielen Touristen liess uns erstaunen. Duty-Free Shops, wohin das Auge reicht. Im Geschäft nebenan konnten wir nicht nur günstige Getränke kaufen, sondern auch Franzosen und Spanier beobachten, die im grossen Stil einkauften: 5 Liter-Flaschen Whisky, Grosspackungen Zigaretten, Parfüme, kiloweise Süsswaren und Schokolade – ein tolles Bild. Und als wir so draussen sassen und unsere Cola genossen, wurden unsere Reize durch die vielen Werbungen erregt, die all-you-can-eat-Buffets für weniger als neun Euro versprachen. Doch wir wussten, dass noch ein Pass auf uns wartet und dass wir uns das noch nicht verdient gehabt hätten. Oder besser gesagt, dass es uns im Anschluss noch plagen würde.

Im Anstieg des Pas d'Envalira
Komm schon Schwerkraft, du warst mal cool!
Es ging also weiter bergauf. Noch zwei Kurven in den Häusern, vorbei an einer riesigen Tankstelle mit massig Kundschaft und separatem Platzanweiser, der uns gar anfeuerte. Und schon waren wir wieder draussen aus dem Getümmel. Nur einzelne Autos überholten uns. Einige Lastwagen. Und einige Pferde passierten unseren Weg. Wir strampelten uns den Pass empor – den Pas d’Envalira. Alles kein Problem. Die Beine dankten die Pause mit neuen Kräften. Der Kopf ignorierte die Sessellifte, die auf den selben Berg führten, und wusste, dass hinter der Passhöhe eine rasante, lange Abfahrt wartet. Nur als uns ein Fahrer, der in der Tour de France wohl noch als Bergfloh durchgehen würde, überholte und es als leichte Übung aussehen liess, waren wir ein wenig gekränkt. Ich zumindest. Bei meinem Bruder konnte ich nur davon ausgehen. Sehen konnte ich ihn nicht, er war mir bereits wieder entwischt.

Das Dach der Tour
Kurz vor der Passhöhe kam uns unser Bergfloh wieder entgegen. Er hatte wohl nur seine Nachmittagstour gemacht und schaute kurz auf der Anhöhe nach, ob das Schild mit der Passhöhe noch dasteht. Ich war aber doch froh, als ich jenes Schild sah. Zusammen mit zwei Restaurants und – tatsächlich – zwei Tankstellen. Man stelle sich vor, die Leute karren tonnenweise Benzin auf über 2000 Meter über Meer, nur damit es die Franzosen und andere wieder hinunterfahren können. Hauptsache günstig. Wir aber machten Pause. Das Dach unserer Tour war erreicht. Auf 2407 Meter über Meer genossen wir jeden Augenblick. Warme, trockene Klamotten anziehen und dann gönnten wir uns im Restaurant eine Cola und eine Portion Pommes. Fettig, salzig und nicht knusprig – aber herrlich!!! Und auch extrem günstig. Bei uns bezahlt man in jedem Restaurant mehr, als hier in der Berghütte. Wir begannen langsam zu begreifen, dass wir in einem wohl ziemlich kostengünstigen Land gelandet sind.

Perfekte Abfahrt
Nach Speis und Trank mussten wir natürlich noch einige Schnappschüsse einfangen. Doch danach wollten wir uns an die Abfahrt machen. Vorerst standen uns aber Dutzende Pferde im Weg. Mitten auf der Strasse standen sie und schauten herum. Für die Autos und Lastwagen gab’s kein Durchkommen. Viele Passanten stoppten, stiegen aus, streichelten die Tiere oder fotografierten sie. Wir bahnten uns bald einen Weg durch die Pferde und konnten danach eine der besten Abfahrten geniessen, die ich je fahren durfte. Unzählige Serpentinen den ganzen Pass hinunter und weiter durch Andorra – immer in Richtung la Vella.

In Incles
Durch Soldeu und el Tarter gelangten wir nach Canillo. Ohne treten zu müssen notabene. Im Gegenteil, wir mussten bremsen, um nicht zu schnell zu werden. In Canillo machten wir kurz Rast, um in den gross umworbenen Outlets zu schnuppern. Und hätten wir gewusst, dass es in la Vella selbst keine solche Outlets mehr hat, hätten wir uns die grossen Rabatte wohl kaum entgehen lassen. So aber kurvten wir weiter. Bis nach el Tremat. Hier wurden wir zu einer Pause gezwungen, als sich mein Bruder bei der Fahrt durch eine Baustelle einen weiteren Platten einhandelte. Schlauch wechseln, flicken, pumpen, weiter… Schon wenig später erreichten wir Andorra la Vella. Auf gut Glück steuerten wir in Richtung Zentrum. Und wir hatten gut Glück und wurden bald fündig.

Abfahrt durch El Tarter
Plan B
Auch wenn es uns in diesem „Günstigland“ gereizt hätte, in einem Luxushotel nach den Preisen zu fragen, steuerten wir ein anderes Hotel an. Klein, aber fein. Und so war auch der Preis. Zudem war das Hotel zentral gelegen. Nur mit den Velos gab’s ein Problem. Das Hotel hatte keine Garage und keinen freien Raum, wo wir sie hätten abstellen können. Erst wollten wir sie vor dem Hotel an einen Baum ketten. Der Metzger von nebenan, den wir um Erlaubnis fragten, riet uns aber vehement davon ab und wies uns darauf hin, dass die Räder dann morgen wahrscheinlich nicht mehr da stehen werden. Also, Plan B. Wir holten unsere TransBags, die wir mithatten, um die Räder im Nachtzug transportieren zu können. Räder auseinandernehmen, einpacken und ab in unser Zimmer damit.

Sightseeing
Nach einer Dusche aber noch vor dem Abendessen ging’s zum Shopping. Wir haben uns zwar beide nichts gekauft, haben dabei aber die ganze Stadt gesehen. So konnten wir am Ende in einer Pizzeria zum verdienten Abendessen Platz nehmen. Erst nach dem Essen merkten wir, dass wir in einem Hof gleich neben unserem Hotel sassen. Wir mussten nur noch in unser Zimmer stolpern.

Erster Blick auf Andorra la Vella

Donnerstag, 14. Juli 2011

Tag 11 - Mont-Louis

Heute ging’s früh aus den Federn und entsprechend auch früh auf den Sattel. Da wir in den letzten Tagen immer mit Gegenwind von den Bergen her zu kämpfen hatten, dieser aber üblicherweise erst im Verlaufe des Tages einsetzte, dachten wir uns: Morgenstund hat Gold im Mund.

Stausee von Vinça
(Hin)auf gehts!
Bei strahlend blauem Himmel ging’s los. Das erste Mal, seit wir in Waldkirch losgefahren sind, fahren wir nun absichtlich vom Meer weg: Es geht in die Pyrenäen. Unser Ziel ist Mont Louis – gemäss unserer Recherchen das erste Ort einer Hochebene nach einem Anstieg, der uns schon lange Kopfzerbrechen bereitete.
Manch einer mag nun zu Recht anfügen, man könne doch der Küste entlang nach Spanien gelangen und die Berge halbwegs umfahren. Nun, dem mag so sein. Doch wir kamen irgendwann mal auf die tolle Idee, dass man doch einen Abstecher nach Andorra machen könne. Davon liessen wir uns jetzt nicht mehr abbringen. Und da Andorra inmitten der Berge liegt, hiess es nun: Einfahren für die 1. Pyrenäen-Etappe.

Catalunya
Eus oberhalb von Prades
Den Weg von Canet nach Perpignan zu finden war in etwa gleich schwierig, wie tagszuvor nach Canet zu gelangen. Wir mussten uns auf unser Gefühl verlassen. Erst später gab es einen Radweg, der uns durch Wiesen und Äcker, aber auf halbwegs guten Strassen in die Agglomeration Perpignans führte. Auf der Hauptstrasse gelangten wir ins Zentrum. Kurz vor der Innenstadt hielten wir aber gleich nach Le Soler bzw. El Soler. Denn seit Saint-Marie Plage bzw. Santa Maria del Mar, also seit gestern, befanden wir uns in Katalonien. Viele Schilder waren nun zweisprachig beschriftet.

Selbst der Staat wünschte uns eine gute Reise
Schnell durch!
Irgendwo an einer Durchfahrtstrasse in Perpignan wurden wir plötzlich anhand eines uns mittlerweile gut bekannten Schildes der Strasse verwiesen. Da unsere Karten nicht für die engen Stadtstrassen ausgelegt waren, hiess es nun, unserem Gefühl zu vertrauen. Auf holprigen Strassen gelangten wir – mit Zwischenhalt bei einer Bäckerei für das obligate Frühstück und das Proviant-Baguette – auf die andere Seite der Stadt. Der Proviant war wichtig. Es war schliesslich der 14. Juli, seines Zeichens französischer Nationalfeiertag. Wir wussten nicht, wie oft wir Gelegenheit haben würden einzukaufen.

Nächste Ausfahrt: Le Soler!
Fort Liberia oberhalb Villefranche
An einem grossen Kreisen folgten wir wieder den Wegweisern nach Le Soler. Wir wunderten uns ein wenig. Die Strassen waren breit und in gutem Zustand. Der Radstreifen war ebenso grosszügig ausgelegt. Doch wir waren uns sicher, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. In Frankreich kann man aufgrund der Verhältnisse der Strassen nicht auf ihre Kategorie schliessen. Mancherorts sind Autobahnen so schmal wie andernsorts Ortsdurchfahrten. Manchmal sind aber auch Radwege so breit wie ganze Strassen und du fragst dich, wo denn die anderen Verkehrsteilnehmer bleiben.
Wir fuhren also unbekümmert unseres Weges. Erst als uns die entgegenkommenden Fahrzeuge immer wieder zuhupten und Lichtzeichen gaben, begannen wir uns zu hinterfragen. Komischerweise hat von den Fahrzeugen, die in unsere Richtung fuhren, nur eines gehupt. Einige Kilometer weiter stellten wir fest, dass wir tatsächlich auf der Autobahn unterwegs waren. Doch da wir extrem zügig vorankamen und kaum Verkehr war, entschieden wir uns noch die wenigen Kilometer bis Le Soler durchzuziehen. Dort haben wir dann die Ausfahrt genommen und folgten von nun an der Hauptstrasse, die zwar parallel lief, aber immer wieder durch Ortschaften führte.
Auf der Autobahn merkten wir kaum etwas vom Wind. Links und rechts der Strasse gab es Bäume und Gebüsch. Wir waren ziemlich windgeschützt unterwegs. Dieser Schutz fehlte uns aber auf der Hauptstrasse. So kam es, dass die Kilometer ab El Soler einiges strenger wurden als jene zuvor und wir uns öfters wünschten, dass wir noch etwas auf der Autobahn geblieben wären.

Villefranche
Drive-In
Doch so gelangten wir eben mit mehr Anstrengung über Saint-Féliu nach Millas. Obwohl oder gerade weil wir kaum vorankamen, waren wir schon ziemlich k.o. Beim Supermarkt gab’s also erst noch eine Pause und damit ein zweites, ausgiebigeres Frühstück. Als wir vor dem Geschäft sassen, sahen wir etwas auch für uns Neues: Gleich nebenan in einem Nebengebäude gab es einen Drive-In. Nicht aber für Fastfood oder wofür wir es noch kennen, sondern für Brot. Baguette und Croissants bestellen, einmal um den Parkplatz zum zweiten Fenster, mitnehmen und weg. Ils sont délirés, les Francais!

Alles oder nichts!
Weiter geht’s – natürlich immer gegen den Wind – nach Néfiach und Ille-sur-Tête. Nach diesem Ort kam es zum grössten Schreckmoment der gesamten Reise. Wir erreichten eine Kreuzung. Der Wegweiser zeigte nach Südwesten in Richtung Prades und Andorra. So weit, so gut. Doch der Wegweiser war grün und nebenan stand noch das Autostrassen-Schild. Diese Strasse konnten wir also nicht nehmen. War unsere Reise hier zu Ende? Es gab nur eine Strasse, die die Berge nach Mont-Louis hinaufführt. Sollte diese tatsächlich eine Autobahn sein? Sollte unsere Reise an einem verlassenen Kreisel hinter Ille-sur-Tête abrupt enden? Das konnten und wollten wir nicht glauben. An dieser Kreuzung gab es noch eine zweite Strasse, die – mehr oder weniger – in dieselbe Richtung führt. Nun hiess es: alles oder nichts!

Es wird steiler
Irgendwo im Aufstieg
Auf einer schön angelegten, alten Bergstrasse gelangten wir in die richtige Richtung. Wir erwarteten eigentlich bis Prades ein relativ flaches Teilstück. Doch ab hier sollten wir nun also beginnen, unsere Höhenmeter zu sammeln. Bis Mont-Louis sollten es 1500 sein. Hier begannen die Strassen nun zu steigen. Durch Wälder und entlang eines wilden Baches fuhren wir weiter. Zu unserer grossen Erleichterung merkten wir bald, dass die Strasse parallel zu Autobahn verlief – und dass uns andere Radfahrer entgegenkamen: auf die Frage, ob man weiterkommt, immer ein gutes Zeichen.
Tatsächlich war nach nicht einmal zwei Kilometern auch die Autobahn fertig und wir wurden wieder auf die grosse Strasse geleitet. Mit leider relativ viel Verkehr ging es weiter. Im Verlaufe dieses Tages waren wir aber oft froh, dass die Franzosen ihre Unabhängigkeit feiern. Denn an einem normalen Donnerstag hätte es sicher bedeutend mehr Verkehr gehabt. Auf der Route National ging es also aufwärts, vorerst bis zum Vinça-Stausee. Am See machten wir auf der Strasse stehend eine kurze Verschnaufpause. Das Wetter war eigentlich perfekt. Die Sonne schien, die Temperaturen aufgrund der steigenden Höhe aber durchaus angenehm. Der Wind sorgte für zusätzliche Abkühlung – leider auch für zusätzliche Anstrengung. Auf einer halbwegs flachen Strasse gelangten wir nach Prades. Eingangs des Ortes machten wir eine weitere Pause – Mittagsrast beim Supermarkt.

Nach Prades war das nächste Ziel in unseren Köpfen schon Mont-Louis. Wir waren zeitig dran, es war erst kurz nach Mittag und wir hatten schon Zweidrittel der Strecke – Zweidrittel der Höhenmeter sollten aber erst noch folgen. Leicht ansteigend ging es nach Ria und weiter nach Villefranche-de-Conflent. Die Steigung war ideal, um sich daran zu gewöhnen. Von mir aus hätte es den ganzen Nachmittag so weitergehen können. Doch ich wusste, dass mir dieses Wünschen nicht viel bringen würde.

Bei Olette
Da steppt der Putz
Nach ein paar Fotos vor der Festung von Villefranche ging es über Serdinya und Joncet le Sola weiter nach Olette. Auf dem Dorfplatz hielten wir kurz an. Mit einer kalten Cola aus dem Café nebenan bestaunten wir das Chaos, das noch auf dem Platz herrschte von der Feier des Vorabends. Obwohl es bereits Nachmittag war, schlief noch das ganze Dorf. Die Oletter müssen gestern ziemlich auf den Bär gehauen haben.

Das mit dem Bären
A propos „auf den Bär hauen“: Der Spruch wurde, neben vielen anderen, zum grössten Running-Gag unserer Reise. Als wir seinerzeit in Neuchâtel dem Ufer entlang schlenderten, quatschten wir über dies und das und natürlich auch über das Festival. Irgendwie hat mein Bruder dann die Sprichwörter „hier steppt der Bär“ und „auf den Putz hauen“ verwechselt, gekreuzt und vertauscht – ob absichtlich oder nicht sei dahin gestellt. Jedenfalls „steppt jetzt der Putz“ oder in unserem Fall „haute man auf den Bären“. Immer, überall, bei jeder Gelegenheit, so fest man kann…

Der gelbe Wurm
Nach Olette ging es stetig bergauf. Mal weniger, oft mehr. Doch die Landschaft war wunderschön. Grüne Hügel, hohe Berge, tiefe Täler, blauer Himmel: Vor allem auf den flacheren Stücken konnte man das Gebotene in vollen Zügen geniessen. Die Steigung war noch immer nicht so schlimm wie befürchtet. Es ging immer leicht aufwärts, aber steile Anstiege waren sehr selten. So erreichten wir einige Tunnels und unzählige Pedalumdrehungen später Thuès-les-Bains. Kurz nach Thuès-entre-Valls sahen wir zum ersten Mal den Train Jaune. Eine Zahnradbahn, die dieselben Höhenmeter zurücklegt wie wir. Sie fährt von Villefranche bis Latour-de-Carol, wo wir morgen noch vorbeikommen sollten.

Es wird noch steiler
Von nun an wurden die Strassen steiler. Dennoch gelangten wir nach Fontpedrosa. Doch die grössere Steigung machte sich – zumindest bei mir – schnell bemerkbar. Plötzlich wurden die Beine viel schneller müde, das Fahren wurde extrem anstrengend. Nun war der Zeitpunkt also gekommen: Der Körper wird müde, der Kopf muss kompensieren. Aufgeben verboten!
In Sauto kreuzte uns der Zug. Er kam von oben, für uns ging’s bergauf. Die Zugpassagiere winkten und riefen aus den offenen Wagen. Es schien, sie konnten kaum glauben, dass sich jemand mit dem Velo diese Route antut. Doch für uns war es mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden, dieses Aufwärts und Vorwärts.
Die Kurven wurden nun enger, die Abhänge steiler. Die Strasse auch. Kurve um Kurve ging’s bergauf. Wir wussten nur kilometermässig, dass es nicht mehr sehr weit sein konnte. Wie immer in solchen Anstiegen galt die Regel: Jeder fährt sein Tempo. So zog mein Bruder schnell mal weg. Ich trottete hinterher, teilte meine Kräfte ein, so gut es ging, und machte mir eine Freude daraus, die verdutzten Gesichter der Autofahrer zu sehen, wenn ich sie mit einem Lächeln im Gesicht ansehe. Das war gute Unterhaltung!

Le Train jaune
Mentos-Pause
In einer der vielen Kurve waren aber meine Beine dann doch zu müde. Und das Sitzen wurde unbequem. Ich stieg ab und setzte mich auf die Mauer, die als Strassenabsperrung diente. Mit ein paar Mentos aus meinem Rucksack gab’s wieder so genannt schnelle Energie. Für die letzten Meter, wie ich hoffte. Mein Bruder war mittlerweile nicht mehr zu sehen. Er war wohl schon oben, als ich noch da sass. Nach der Pause ging’s also weiter. Noch einmal links, noch einmal rechts und in der letzten Linkskurve sah ich schon, dass mein Bruder auf der Anhöhe auf einem Rastplatz stand. Und dann, geschafft.

Swiss Power
Er war mittlerweile mit einer Frau und ihrer Tochter ins Gespräch gekommen. Sie kamen aus der Westschweiz, waren mit dem Auto unterwegs. Und sie konnten kaum glauben, was wir geschafft hatten. Für uns war das noch nicht genug, doch das überforderte wohl ihre Vorstellungskraft. Sie waren so nett und machten noch ein Foto von uns beiden mit dem Tal im Hintergrund. Dann verabschiedeten wir uns. Doch als die beiden schon fast weg waren, kam die Tochter zurück und brachte uns eine Tafel Schokolade, rot eingepackt, mit weissem Kreuz: „Swiss Power!“ sagte sie nur lachend.

Bestes Hotel am Platz
Wir genossen den atemberaubenden Blick ins Tal. Nun, der Blick war zwar schön, aber was ihn atemberaubend machte, war die Leistung, die wir vollbringen mussten, um ihn geniessen zu können. Doch wir waren noch nicht ganz am Ziel. Also nochmals aufsitzen! Doch bereits einige Höhenmeter und wenig später erreichten wir die Anhöhe, wo uns das Ortschild von Mont-Louis ein schnelles Ende ermöglichte. Hier waren wir nun, 90 Kilometer und 1500 Höhenmeter von Canet entfernt. Es war eine Wohltat, mal wieder kühle Bergluft zu atmen anstatt der teils doch stickigen Stadt-, mindestens jedoch trockenen Meeresluft. Wir machten uns müde aber gut gelaunt auf Hotelsuche. Eines lag zwar vor den Toren der in eine Mauer gebauten Stadt. Doch es sah nicht wirklich einladend aus. So begaben wir uns in die Stadt. Wobei Stadt übertrieben ist und man es gerade noch als Dorf bezeichnen mag. So waren wir schnell rum. Ein paar Restaurant, aber nur ein Hotel. Als wir davor standen, wussten wir aber nicht, ob es nur heute geschlossen hatte oder ob es wegen zu länger geschlossen bleibt. So blieb uns nichts anderes übrig, als doch zum Hotel vor den Mauern zu gehen. Es schien, das Beste am Platz zu sein.

Surprise
80er-Jahre-Style
Mein Bruder ging durch die Arkaden zur Reception, während ich draussen wartete. Ich konnte durch das Fenster die Unterhaltung beobachten, die er mit der Dame am Empfang führte. Er kam raus, fragte mich, ob der Preis ok sei. Die 42 Euro waren natürlich ok. Bei der Müdigkeit in meinen Beinen hätte es schon einiges mehr kosten müssen, als diese 42 Euro. So gingen wir hinein, checkten ein. Und schon gab’s die ersten beiden Überraschungen: Zum einen war der Dame völlig egal, was wir mit unseren Rädern machten. Wir müssten sie halt irgendwo hinstellen, meinte sie in unglaublicher Gleichgültigkeit. Die zweite Überraschung war der Zimmerpreis. Plötzlich war die Übernachtung doppelt so teuer. Der Preis war scheinbar pro Person. Noch jetzt frage ich mich, ob das wirklich so war oder einfach auf die Laune der Dame ankam.

Die Hexe
A propos Dame: Die Frau mit ihren langen braunen Haaren, dem unfreundlichen Gesichtsausdruck und der völligen Teilnahmslosigkeit ist die wohl unsympathischste Person, die uns auf unserer gesamten Reise begegnet ist. Wir waren uns nicht sicher, in wieweit wir ihr Vertrauen schenken durften und waren froh, so wenig wie möglich mit ihr zu tun zu haben. Wenn ihre Vorfahren gleich waren, konnten sie wohl im Mittelalter dem Scheiterhaufen entfliehen und wurden stattdessen aus der Stadt vor die Mauern getrieben. Frei nach Bart Simpsons Motto: „Hexe, Hexe, Hexe!“

Willkommen im Spuk-Grand-Hotel
So bezogen wir also unsere Zimmer im Hotel – einem Hotel, das aussah, wie ein Grand Hotel aus den 80er-Jahren. Rote Teppiche an den Wänden, arttypische Balkone, alte Badezimmer mit Badewanne, Mobiliar aus dunklem Holz und ein Haus, das viel zu gross war. Wir sahen keine anderen Gäste. Nur ab und an war ein Kindergeschrei zu hören. Viele Türen, die aus den vielen Treppenhäusern führen sollten, waren verschlossen. Im Notfall einen Fluchtweg zu finden, wäre zur Glückssache geworden. So aber erkundeten wir das Hotel. Wir suchten uns unseren Weg aus dem Hotel, um noch im Laden im Dorf Getränke zu kaufen. Den Weg nach draussen fanden wir, doch bei einer Tür fragten wir uns, was mit wohl "la marche" heisst. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift "Attention à la marche". Erst als mein Bruder die Stufe im Türrahmen hinunterstolperte, brachten wir "la marche" mit einem Absatz in Verbindung. Dass ich das lustiger fand als er, erklärt sich wohl von selbst. Neben unserer Einkaufstour fanden wir heraus, dass gleich nebenan ein Hallenbad war, das für Hotelgäste frei zu Verfügung stand. Also Badehose packen (die ich im Gegensatz zu meinem Bruder noch nicht nach Hause geschickt hatte, aber er improvisiert ja gern) und los ging’s! Es war einfach herrlich. Warme Duschen, warme Pools und ein schön heisser Whirlpool. So vergass man die strengen Kilometer, die hinter einem lagen, schnell wieder.

Das Möchte-gern-Stück-Boeuf
Anschliessend ging’s zum Abendessen. Nach einer Runde im Dorf und rundherum mussten wir feststellen, dass das Angebot sehr mangelhaft war. Wir entschieden uns aufgrund mangelnder, passender Alternativen für das Restaurant unseres Hotels. Für etwa 13 Euro gab’s ein Menu: Salat als Vorspeise, Hauptgang nach Wahl und Dessert nach Wahl. Nun, die Wahl beim Dessert mit dem Schoko-Kuchen war sehr gut. Doch der Hauptgang bleibt mir wohl noch lange in Erinnerung: Pièce de boeuf. Ein paar Kartoffeln, Fenchel, den ich nicht mag und trotzdem gegessen habe, und ein Stück, das wohl Fleisch sein sollte, in Tat und Wahrheit bei uns aber als Siedfleisch noch gut verkauft wäre. Ich schnitt ab, was nach Fleisch und nicht nach Sehne oder Fett aussah. Dem Dessert sei dank, war das Essen alles in allem aber genug und halbwegs gelungen.

So verkrochen wir uns auf unser Zimmer. Noch kurz standen wir auf dem Balkon, betrachteten die sich uns bietende Kulisse mit den Bergen, dem Nebel und dem speziellen Licht. Schliesslich lagen wir in die Betten und schliefen bei Temperaturen ein, die nach tagelangen Hitzenächten und -tagen eine Wohltat waren.



Mittwoch, 13. Juli 2011

Tag 10 - Canet Plage

Nach einer gottseidank kühlen Nacht im nicht klimatisierten Zimmer machten wir uns mal wieder daran, unsere Sachen zu packen. Da wir aber bald die Pyrenäen erreichen würden, entschieden wir uns, noch einmal ein Paket nach Hause zu schicken. Da rein kam alles, was wir sicher – oder wahrscheinlich – nicht mehr brauchen. Wir wollten uns jedes mögliche Gramm Gewicht ersparen. Velohosen, meine Trainerhose, die Badeshorts meines Bruders.

Bei Narbonne
Bitte nicht!?
Nach einem Besuch bei der nahegelegenen Post ging’s los. Das Gewitter der letzten Nacht hat sich zwar verflogen, doch die Winde waren nach wie vor stark. Als wir uns den Weg durch das Strassenwirrwarr von Narbonne bahnten, hoffte ich immer wieder, wenn uns der Wind entgegenwehte: „Lass das bloss nicht unsere Richtung sein?!?“ Als wir den Stadtrand erreicht hatten, hatte ich aber dann traurige Gewissheit. Sofern die Windrichtung nicht drehen sollte, hatten wir einen anstrengenden Tag vor uns.

Faites vos jeux!
Bei Sigean
Wir verliessen also Narbonne und kämpften uns der einzigen Strasse, der Hauptstrasse, entlang in Richtung Sigean. Leider gibt es in Sigean einen Wildpark oder etwas dergleichen. Schön für die Löwen und Zebras dort, schlecht für uns. Alle paar Kilometer kam wieder ein Werbeschild. Alle paar Kilometer stand „nur noch x Kilometer“. Doch das x wurde nicht so schnell kleiner wie es hätte kleiner werden sollen. Gefühlte zehn Kilometer und eine tatsächliche Ewigkeit später hatten wir erst zwei oder drei Kilometer geschafft. Die Strassen waren gerade und eben. Die Winde wechselten teilweise spontan die Richtung. Anfangs wähnte man sich im falschen Film. Doch mit der Zeit konnte man sich auch einen Spass oder eine Art Spiel daraus machen. Immer wieder hielten wir an, ruhten uns aus, amüsierten uns ob der Natur oder den vorbeibrausenden Autos und Lastwagen. Das Ziel war klar: Am Ende des Spiels musste es heissen Natur „null“, wir beide „eins“.

Wir machten uns auch einen Spass daraus, die LKW-Chauffeure zu grüssen. Unsere Theorie: Fernfahrer aus Spanien, Portugal und so weiter winken häufiger! Daneben bereitete uns die Natur immer wieder neue Freuden: Endlose Steinfelder, karge Landschaften, kleine Oasen mit Bäumen, Sträuchern und Wiesen, riesige Windparks. Und natürlich freuten wir uns über jede Kurve, die unsere Fahrtrichtung etwas vom Wind wegdrehte. Teilweise kamen wir so aufgrund des Rückenwindes zu geschenkten Kilometern. Aber diese Freuden währten leider nur kurz.

Presque rien ne va plus!
Vor Leucate
Erst als wir die Hauptstrasse Richtung Leucate verliessen, drehten wir mit dem Wind. Und wir verliessen die vielen Autos und Lastwagen. Nach einigem Auf und Ab und einer angenehmen Abfahrt an die Küste erwartete uns aber wieder das gleiche Spiel. Nun aber auf dem Level für Fortgeschrittene. Links lag direkt das Meer, rechts gab es eine Lagune. Der Wind wechselte von rechts nach links, von vorne nach… nein, von hinten kam er nie. Von links gab es eine salzige Meeresbrise, von rechts war es aber noch unangenehmer: Windstösse, die zum einen nach abgestandenem Fischwasser stanken und die dich zum anderen teilweise fast vom Rad warfen. Doch zur Halbzeit hiess es: Natur 0, wir ½.

Bei Leucate
Immer nur Camping!
Das Wetter war sonst eigentlich super. Sonne, blauer Himmel, schön warm und das ganze direkt am Meer. Wir konnten es kaum erwarten, bis wir unser Tagesziel erreichen: Saint-Marie Plage. Wir hatten heute extra eine kurze Etappe geplant, damit wir noch ein paar Stunden am Strand haben sollten. So hatten wir nach Le Barcarès nur noch etwa sechs Kilometer vor uns und erreichten bald Saint-Marie Plage. Wir steuerten ziemlich direkt die Touristeninformation an. Hier wurde uns leider mitgeteilt, dass es auch in Saint-Marie nur Camping gibt. Hotels Fehlanzeige. Wir hatten nun die Wahl, unser Glück in Saint-Marie selber etwas entfernt vom Strand zu versuchen oder bis Canet-Plage weiterzuziehen. Wir entschieden uns für letzteres.

Hotelsuche
Vor Leucate
Wenige Kilometer und einige wagemutige Wegentscheidungen an Kreuzungen später erreichten wir den Hauptplatz von Canet-Plage. Hier fanden wir direkt die Touristeninfo. Die nette Dame zeigte mir einige mögliche Hotels, zu welchen wir uns auch gleich aufmachten. Das Erste, von welchem die Dame behauptete, es sei das Beste am Platz, war aber leider ausgebucht. Das zweite glich eher einer verlotterten Herberge und wir waren uns einig, uns das nicht antun zu wollen. Beim Dritten stimmte fast alles, es lag gar direkt am Strand. Aber es war zu teuer. Selbst nach Verhandeln und dem Entgegenkommen des Hoteliers war es ausserhalb unserer Vorstellungen. So zogen wir weiter. Uns fiel dann das Schild eines Logis-Hotels wieder ein, an welchem wir eingangs des Dorfs vorbeigefahren waren. Wir dachten, wir fänden schon was. Doch nun waren wir froh, diesem Schild folgen zu können. Es führte uns zu einem Hotel wenige Strassen entfernt vom Strand. Der Preis war zwar fast gleich hoch wie jener, der zuvor zu hoch war. Doch dieses Hotel machte einen weitaus besseren Eindruck. Check-in!

In Canet
Die Franzosen feiern
Nach der obligaten Dusche gingen wir in die Einkaufsstrassen und zum Strand. Die Sonne schien zwar, doch auch hier setzte der Wind den Leuten zu. Immer wieder hatten wir Tücher und Kleider von Leuten, die eigentlich vor uns lagen, bei uns. Nichtsdestotrotz war es herrlich nach all den Stunden im Sattel endlich im Strand sitzen zu können, auf’s Meer zu blicken, zu träumen, zu geniessen. Mittlerweile schrieben wir den 13. Juli. Es war also der Vortag des französischen Nationalfeiertags. Und das merkte man. Die Restaurants wurden rausgeputzt, die Gassen waren voll, der Hauptplatz diente als grosse Bühne. Und am Strand wurde eine grosse Feuerwerksshow vorbereitet. Das grosse Fest sollte schon heute Abend steigen.
Wir wollten die Atmosphäre geniessen und entschieden uns für eines der vielen Restaurants an der Promenade. Noch heute läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an den Pasta-Salat denke, den es beim Fest-Menü gab.

Nach einem Gelato und einem kleinen Snack aus dem Supermarkt ging’s zeitig zurück ins Hotelzimmer. Das Knallen des Feuerwerks hörten wir nur noch dumpf durch die Fenster, während wir einschliefen.

Dienstag, 12. Juli 2011

Tag 9 - Narbonne

Bei Sète
Nach einer viel zu kurzen Nacht ging’s bei bewölktem Wetter weiter. Es war ganz angenehm, einmal nicht bei strahlendem Sonnenschein – und entsprechenden Temperaturen – zu fahren. Auch wenn es dennoch recht warm war. Wir freuten uns beide sehr auf die heutige Etappe. Das Ziel war Narbonne. Da wir gestern weiter gefahren sind als geplant, stand heute eine etwas kürzere Strecke an. Diese sollte uns zudem lange direkt am Meer entlang führen. Auf Nehrungen sollten wir von beiden Seiten mit Wasser umgeben sein.

Einfahren der Küste entlang
Doch bevor wir uns zwischen die Meere wagten, mussten wir uns stärken. Einige Kilometer nach Frontignan erreichten wir Sète. Ganz zu Beginn unserer Planungen hatten wir vor, hier einmal zu übernachten. Heute mussten wir feststellen, dass wir wohl nicht viel verpassen werden, wenn wir weiterziehen. Die Stadt ist geprägt von Industrie, alten Bauten, einigen Kanälen. Sicherlich hätten sich schöne Plätze finden lassen, doch wir entschieden uns weiterzufahren. Dem Meer entlang umkurvten wir den Hausberg Sètes. Auf der Promenade gab es zudem einen Halt auf einem Aussichtspunkt direkt über der Brandung. Einige hundert Meter weiter fanden wir auch endlich eine Bäckerei und einen Supermarkt. Die Szene glich einem Markt. Auch wenn oder gerade weil alles mitten in Hotels gelegen hatte und von Touristen dominiert wurde, hatte es einen gewissen Unterhaltungswert, die Geschehnisse auf dem Platz zu verfolgen.
Bei Sète
Als wir wieder aufbrachen, hielten wir auf die Küstenstrasse nach Agde zu. Ich zumindest. Nachdem ich bei einem der vielen Kreisel zurückschaute, musste ich feststellen, dass mein Bruder nicht mehr hinter mir war. Na dann, warten wir. Auch nach einigen Momenten ist er nicht in Sicht. Dann muss ich wohl zum Kreisel zurück. Gerade als ich mich auf der falschen Fahrbahn zurückgemogelt hatte und einige Augenblicke in alle Richtungen spähte, kam er zurück. Er hatte sich für die Strasse entschieden, die einmal um den Berg herumführen würde. Er hat aber auch gemerkt, dass etwas nicht stimmte, als er mich nicht mehr sah.

Auf dem Möchte-Gern-Radweg
Gemeinsam fuhren wir also auf die Sandbank raus, die Sète mit Agde verbindet. Beim nächsten grossen Kreisel wurden die Velos von der Hauptstrasse weggewiesen: Fahrräder verboten. Wir folgten dem Radweg, der direkt beim Meer lag. Nur eine Düne trennte uns vom Strand. Wir freuten uns auf die nächsten Kilometer. Nach Karte sollte die Strecke schnurgerade bis nach Agde führen. Doch wir haben die Rechnung ohne die französischen Verkehrsplaner gemacht. Einige Pedalumdrehungen später endete der Radweg quasi. Er war zwar nicht wirklich fertig, doch was weiterführte, konnte man nicht als Radweg bezeichnen. Es glich eher einem Wiesenweg, der über einen Acker und durch Reben führte. Doch wir hatten keine Wahl. In der Hoffnung, dass unser Material das mitmachen würde, fuhren wir weiter. Unser Mut wurde belohnt. Wenige Kilometer weiter gab es wieder einen richtigen Radweg. So erreichten wir irgendwann Les Onglous.

So wie es sein soll
So wie es nicht unbedingt sein soll


Marseillaise nach Marseillan
Fälschlicherweise dachten wir, wir wären bereits näher an Agde. Unsere Karte konnte uns leider nicht weiterhelfen. Wir entschieden uns an einer grossen Kreuzung aus dem Bauch heraus für eine Strasse. Leider für die falsche. Wir gelangten nach einigen Zweifeln, die uns nicht daran hinderten, weiterzufahren, nach Marseillan. Zeit für eine Pause. Im Supermarkt versorgten wir uns mit dem Üblichen. Dazu gehörte nun jeweils auch eine Dose Cola. Schnelle Energie... Auf der Mauer vor dem Supermarkt diskutierten wir über die weitere Route. Doch viel zu bereden gab es nicht. Wir mussten nach Agde, hatten nun halt eine kleine Zusatzrunde gedreht. Doch immerhin mussten wir nicht zurück, konnten direkt von hier weiter.

Bei Fleury
Auf den Möchte-Gern-Strassen
So fuhren wir nun. Unsere Route führte uns von Agde weiter nach Vias. Kurz vor Villeneuve-lès-Béziers drehten wir nach Süden ab. Nächstes Ziel: Sérignan. Die Strecke von Sérignan über Vendres und Fleury nach Vinassan waren mit die schlimmsten Kilometer der gesamten Tour. Zum einen mussten wir uns auf unseren Orientierungssinn verlassen, da unsere Karten bei diesen kleinen Strassen an ihre Grenzen stiessen. Zum anderen haben die Wege durch die französische Pampa wohl seit Jahren keinen Unterhalt mehr erhalten. Die Strassen waren teilweise in katastrophalem Zustand: Löcher, Risse, Flickenteppiche.

Riegel-Pause
Bei Vinassan
In Fleury legten wir noch eine Pause ein. Erst wollten wir im Dorfzentrum mal wieder unseren Proviant aufstocken. Doch das verschlafene Dörfchen hatte nichts zu bieten, was einem Laden ähnlich schien – ausser der für Frankreich obligaten Pharmacie. Als wir gerade dorfauswärts fuhren, entschieden wir, dennoch eine Pause zu machen. Eine „Riegel-Pause“; mehr hatten wir nicht. Als dann kurz vor der Rast der Himmel drohte, über uns einzubrechen und wir fürchteten, in einen Platzregen zu kommen, der sich durch riesige Tropfen ankündigte, suchten wir die nächstbeste Bank und wurden unter einem schützenden Baum fündig. Riegel-Pause! Sie wurde dann aber doch zur „Riegel- und Mentos-Pause“.
Der Regen blieb aus. Die paar Tropfen waren schon alles. Auf der gesamten Reise sollte dies der einzige Moment bleiben, in dem wir unseren Regenschutz brauchten. Weitere Regenstörungen Fehlanzeige!

In Narbonne
Velo-Bummel
Durch Wälder, Wiesen und Äcker fuhren wir weiter. Kreuz und quer, ohne jegliche Orientierung, immer der Strasse entlang. Dennoch erreichten wir wie erwähnt Vinassan. Hier wurden die Strassen wieder besser und die Wegweiser wieder häufiger. Letzteren folgten wir bis Narbonne. In der Stadt angekommen war es erst schwierig, das Stadtzentrum auszumachen. Wir fuhren mit etwas Sinn und viel Erfahrung aber schliesslich ans richtige Ort. Als die Gassen enger und die Fussgänger mehr wurden, stiegen wir ab. Wir bummelten mit Rad, Sack und Pack durch die Gässchen und gelangten zum Hauptplatz beim Rathaus. Direkt machten wir uns auf die Suche nach einem Hotel. Etwas ausserhalb der Fussgängerzone wurden wir fündig. Das Hotel schient alt, aber gepflegt. Der Herr an der Rezeption zeigte uns freundlich den Raum, wo wir die Räder abstellen konnten.


Waschen, das Zweite
Im Rathaus von Narbonne
Da wir zeitig hier waren, entschlossen wir, einen Waschsalon-Besuch einzuschieben. Während mein Bruder waschen ging, hing ich die in Lyon gekaufte Schnur kreuz und quer durch das Zimmer auf. Die Wäsche sollte schnell trocknen. Im Zimmer war es ziemlich warm. Ich war sehr froh, dass das Wetter weiterhin durchzogen war. Wäre es heisser gewesen, wäre in dem Zimmer wohl Sauna-Feeling aufgekommen.

Als die Wäsche hing, bummelten wir ohne Sack und Pack noch durch die Innenstadt. Ein kurzer Besuch im Supermarkt, ein Schauen in die Schaufenster, ein Rundgang rund um die Brücken über den Fluss, ein Abstecher in das mittelalterlich anmutende Rathaus am Hauptplatz: Erst danach genossen wir in einem Restaurant direkt an den Steinmauern des Rathauses unser Abendessen.

Zurück im Hotelzimmer lagen wir im Bett. Während wir einschliefen, hörten wir es draussen blitzen und donnern und waren gespannt, wie das Wetter wohl morgen sein würde.